Leseprobe Band 1 Fassadenbrüche 

Auszug aus Kapitel 1: Silvester 2017

Er stiert fasziniert auf die grauen Haarbüschel, die aus Walters Nase wuchern. Ein einzelnes Haar kringelt sich an der rechten Nasenaußenseite nach oben, andere sprießen wie Drähte in verschiedene Richtungen, manche zielen in die Mundöffnung. Dem Drang, sich nach vorn zu beugen, um sie aus geringerer Distanz zu betrachten, gibt er nicht nach.

Sein Blick rutscht nach unten. Weiße Speichelfäden ziehen sich von Ober- zu Unterlippe, wenn die sich öffnen. Es scheint, als würden sie wie ein Gummiband den Mund vor dem Auseinanderreißen schützen. Die Worte, ausgespuckt und umgeben von feinsten Tröpfchen, hört er nicht. Die Konzentration, seinen Monologen zu folgen, ist ihm abhandengekommen.

Walter referiert. Je mehr er getrunken hat, desto langsamer und detaillierter werden seine Ausführungen – und sie wiederholen sich.

Die anderen Gäste haben die Feier längst verlassen. Johan nimmt deren leere Gläser und trägt sie in die Küche. Deutlicher will er nicht werden. Er muss es auch nicht.

Sophie erhebt sich, zieht den widerstrebenden Walter vom Stuhl hoch. Schwankend steht der auf, stützt sich am Tisch ab.

»Es reicht jetzt, Walter. Wir gehen.«

Wenig später sind sie allein und Claudia beginnt mit versteinerter Miene den Rest des Tisches abzuräumen.

»Wir werden alle mal müde. Er nicht«, murmelt Johan vor sich hin.

»Wie bitte?«, fragt Claudia.

»Ach nichts. War nur ein Zitat aus ›Spiel mir das Lied vom Tod‹.«

»Aha«, sagt Claudia, dreht Johan den Rücken zu und verlässt mit einem Tablett voller Gläser den Raum.

Johan reibt seine Augen, ginge am liebsten sofort ins Bett, aber tut er das, wird die Stimmung zwischen ihnen noch frostiger werden. Um das zu vermeiden, wird er reden müssen.

Seit sie sich kennen, verbrachten sie ihre Urlaube gemeinsam. Fünfunddreißig Jahre, jedes Jahr ein Urlaub, mindestens. Anders wäre es für keinen von ihnen denkbar gewesen. Sein Wunsch, eine Zeit lang ohne Claudia reisen zu wollen, hat sie verärgert. Das spürt er deutlich.

Er holt die halb volle Flasche Wein, die er vor Walter retten konnte, und stoppt Claudias Aufräumwut.

»Komm, meine Liebe, die trinken wir noch leer.«

Sie bleibt stehen, nimmt das Glas, das ihr Johan entgegenhält, trinkt einen Schluck, sieht ihn mit blitzenden Augen an.

»Das hast du heute gut eingefädelt, alle Achtung. In Gegenwart von allen erzählst du, eine Reise machen zu wollen, ohne mich. Eine lange Reise. Fragst alle nach ihren Vorsätzen für das neue Jahr und anschließend kommst du mit deinem Plan. Gratulation! Fair wäre gewesen, du hättest das erst mit mir besprochen. Ich stand schön blöd da.«  Stöhnend lässt sie sich auf einen Stuhl fallen. Beiden sitzt die Müdigkeit in den Knochen. Ihre Gläser sind noch nicht leer und Claudia wartet auf eine Antwort. Sie weiß genau, wie gern Johan jetzt kneifen würde. Sie beugt sich nach vorn, stützt den Kopf in ihre Hand und sieht ihn herausfordernd an. Wartet, wie er auf ihre Vorwürfe reagieren wird, sie nicht vorher in seine Pläne eingeweiht zu haben.

»Hoffentlich bereuen wir in nüchternem Zustand die Idee nicht, uns in einem Jahr wieder hier zu treffen. Wer weiß, was dann sein wird?«

Es ist nicht die Antwort, auf die sie wartet. Das ist eine Ausflucht. Sie wird ihn nicht entkommen lassen.

»Das ist ja gerade das Spannende daran. Aber sag mir jetzt ehrlich, hast du extra den heutigen Abend abgewartet, um mir von der Reise zu erzählen? Hast du geglaubt, du brauchst die Rückendeckung unserer Freunde, dann würde ich mich zusammenreißen und würde nicht gleich sauer werden?«

»Nein, das ist einfach so über mich gekommen. Die Idee mit der Wanderung habe ich schon lange. Aber ja, du hast recht, ich hätte vorher mit dir reden sollen. Asche auf mein Haupt.«

Claudia kann sich nicht vorstellen, wie Johan es aushalten wird, so viele Wochen ohne sie zu sein. Und vor allem ohne Susan und die Enkelinnen. Wo er jeden zweiten, spätestens dritten Tag wissen muss, wie es ihnen geht. Jeden Tag fragt, ob Susan angerufen habe und hat sie nicht, selbst zum Telefonhörer greift.

»Genau das ist es doch. Ich habe das Gefühl, ich lebe nicht mein Leben, sondern das Leben der anderen. Ich kann nicht handeln, wie ich will, nehme immer Rücksicht. Hat nicht Susan angerufen und gesagt, sie brauche mich, um Siri vom Kindergarten abzuholen? Im Nu ist meine Planung dahin. Je älter ich werde, desto mehr möchte ich das tun, was ich will. Irgendwann bin ich zu alt dafür. In zehn Jahren sind die Kinder groß, da aber werde ich kaum mehr in der Lage sein, stundenlang zu wandern.«

»Das stimmt. Möchtest du es wirklich machen, mache es jetzt. Ich werde dich vermissen.«

Er werde sie auch vermissen. Ihre humorvolle Art, ihren Sarkasmus. Gut, den liebe er nicht immer, aber ihr Lachen, vor allem das.

Johan hat mit Claudias so schneller Zustimmung zu seinen Plänen nicht gerechnet. Er hat befürchtet, sie würde sie ihm ausreden wollen und er müsse kämpfen für deren Verwirklichung. Kampflos zum Ziel, das ist viel besser, denkt er.

Der Frieden ist wiederhergestellt, sie gehen ins Bett.

Was bleibt, ist ein leichtes Unbehagen bei Johan.

Warum hat Claudia so widerstandslos zugestimmt?


Auszug aus Kapitel 2: Montag, 1. Januar 2018, Katarina

Beim Versuch, den Kopf zu drehen, überfällt Katarina ein dumpfer Schmerz, der sie laut aufstöhnen lässt. Es ist, als sei ein Ring aus Eisen um ihre Stirn gelegt, der sich mehr und mehr zuzieht. Mühsam setzt sie sich auf, zwingt sich, die Augen zu öffnen, blinzelt gegen die Helligkeit an.

Hier ist sie also, in ihrem Wohnzimmer, sitzt auf ihrem roten Sofa. Hat es gestern wieder nicht bis in ihr Bett geschafft. Was war gestern eigentlich los? Ach ja, Silvester. Die Silvesterfeier bei Claudia und Johan.

Sie fährt sich mit den Händen über Gesicht und Haare, greift automatisch zur Zigarettenpackung. Sie spürt ihren schlechten Atem, zündet sich eine Zigarette an, inhaliert tief, hustet.

Blasenentzündung, denkt sie verdrossen. Keiner zweifelte daran, alle bemitleideten sie. Sie aber hat gelogen, schlichtweg gelogen.

Bevor sie auf die Silvesterfeier ging, hatte sie vorgeglüht.  Mit Wodka. Den riecht man nicht.

Der Abend bei Claudia und Johan war eine Katastrophe für sie. Ständig, wenn sie auf die Toilette ging, hatte sie Angst, entdeckt zu werden. Heimlich zu trinken, das ist so erniedrigend. Sie hat das aber geschickt eingefädelt, findet sie.

An der Garderobe hing ihr Mantel mit beidseits großen Taschen. Darin versteckt war jeweils ein mit Wodka gefülltes Fläschchen. Gleich am Anfang des Abends hatte sie eins davon im kleinen Mülleimer deponiert, der neben der Toilette stand und sorgfältig mit Toilettenpapier bedeckt. So musste sie nicht jedes Mal an der Garderobe vorbei. Das wäre zu auffällig gewesen. Damit auch bestimmt niemand den Alkohol riechen konnte, lutschte sie ständig Bonbons. Eukalyptusbonbons, die sind gut gegen Erkältung, sagte sie zu allen. Außer Blasenentzündung auch Halsschmerzen, Erkältung eben. Das musste jeder verstehen und hat wohl auch jeder verstanden. Außer ihr gab es keine Raucher. Das war günstig. So konnte sie zum Rauchen allein auf die Terrasse gehen. Und auch da einen kleinen Schluck nehmen.

Aber jetzt fühlt sie sich elend. So elend wie schon lange nicht mehr. Hoffentlich haben Dirk und Marie nichts gemerkt. Vor allem Marie wäre enttäuscht von ihr. Sie glaubt so fest an sie, hält zu ihr. In guten und in schlechten Zeiten, denkt Katarina. Wie in einer Ehe. Allerdings glaubt Marie, die Zeiten seien momentan gut. Manchmal täuscht man sich im Leben eben.

Katarinas Mann hat die schlechten Zeiten nicht ausgehalten. Er verließ sie, als endgültig feststand, sie würden keine Kinder bekommen. Als sie für sich entschlossen hatte, keine künstliche Befruchtung mehr vorzunehmen. Als sie es endlich akzeptiert hatte. Sie hoffte, Markus würde sich ebenfalls mit ihrem Schicksal abfinden. Ein erfülltes Leben ohne Kinder, sie konnte sich das vorstellen. Für Markus war es undenkbar. Nach zwei Jahren, die eher quälend als schön waren, ging er. Bald schon lernte er eine Frau kennen, die bereits eine kleine Tochter hatte. Es dauerte nicht lange und er zog zu ihr. Jetzt hat er zwei weitere Kinder, eigene, einen Sohn und eine Tochter.

Und sie, was hat sie? Nichts. Halt! Stimmt nicht, sie hat ja Michael. Michael, wo ist er eigentlich?

»Michael«, ruft sie laut durch die Wohnung.

Aus dem Schlafzimmer hört sie leises Miauen, aber er kommt nicht.

Ach, du liebe Güte, womöglich hat sie ihn gestern eingesperrt! Tatsächlich. Sie muss gestern, als sie sich für den Abend ankleidete, die Tür hinter sich geschlossen haben. Mist, das Katzenklo steht im Flur.

Sie öffnet die Tür zum Schlafzimmer.

Wie das stinkt! Pfui Teufel!

Michael schleicht um ihre Beine, hat Hunger, miaut kläglich.

Eigentlich müsste Michael Michaela heißen. Sie ist schließlich eine Katze. Sie oder er, für Katarina ist es einerlei. Michael, welch alberner Name für eine Katze! Aber mit Michael ohne a am Schluss befindet sich wenigstens ein männliches Wesen in ihrer Wohnung.

Jetzt gibt sie ihm erst einmal Futter, füllt danach einen Eimer mit warmem Wasser, zieht sich Gummihandschuhe über und putzt die überall verschmierte Katzenscheiße weg.

Ihr wird kotzübel. Sie würgt. Die Kopfschmerzen werden schlimmer. Sie drückt zwei Finger fest auf die Stelle, an der ein Bohrer ihren Kopf zu durchlöchern scheint. Eine Tablette, nein, gleich zwei. Das hilft besser. Ein großes Glas Wasser. Und noch eines. Danach wird sie die Schuhe und Klamotten wegräumen, die überall im Zimmer verstreut sind. Und die Weinflasche, die sie heute Nacht ausgetrunken hat. Nicht mal ein Glas hat sie benützt.

So wie Claudia und Johan leben, hat sie sich ihr Leben früher vorgestellt. Mit Markus, ihrem Mann. ›Mein Mann‹ … wann hat sie diese beiden Wörter zum letzten Mal gesagt? Erst ein Haus, dann Kinder. Friede, Freude, Eierkuchen. Johan sieht so gut aus, ist schlank und rank. Obwohl er auch schon fünfundsechzig Jahre alt ist. Und der Ahat noch solche Pläne. Will wochenlang allein wandern. Das kann sie sich nicht im Entferntesten vorstellen.

Dann waren da Walter und Sophie. Die hat sie gestern zum ersten Mal gesehen. Auf die war sie neidisch. So zufrieden mit allem und mit sich selbst waren sie. Obwohl der Walter auch schon alt aussieht. Die vielen Falten im Gesicht, die buschigen Haare auf dem Kopf, die Nasenhaare und diese komische Haltung. Er sah aus, als würde er beim Aufstehen nach hinten kippen. Die Sophie passt so gar nicht zu ihm. So eine Hübsche. Der sieht man ihr Alter nicht an. Was die mit dem will? Sie könnte mit Sicherheit einen anderen haben. Aber wunschlos glücklich sind sie. Respekt! Wer kann das schon von sich sagen? Sie selbst hat schon lange keine Wünsche mehr. So wird sie auch nicht mehr enttäuscht.

Katarina steht auf, nimmt die leere Weinflasche, stellt sie in die Kammer zu den anderen. Sie legt die Decke zusammen, mit der sie sich in der Nacht zugedeckt haben muss. Sie kann sich nicht erinnern. Sie räumt ihre Schuhe und Kleider weg und geht ins Bad. Betrachtet ihr Gesicht im Spiegel. Dunkle Augenringe, die nicht nur von der verlaufenen Wimperntusche rühren; an den Wangen aufgeplatzte Äderchen. Ihre großen dunkelbraunen Augen mit den langen Augenwimpern, einst ihr schönstes Merkmal und so bewundert von Markus, blicken ihr müde entgegen. Ihre Lippen bilden einen schmalen Strich, die leichten Oberlippenfalten zeugen vom starken Rauchen. Ihre Haare, straßenköterblond mit den Naturlocken, die sie immer gehasst hat und die sich kaum bändigen lassen, zeigen in alle Richtungen. Vor Silvester war sie beim Friseur, ließ sie kurz schneiden. Jetzt gefallen sie ihr noch weniger. Soll sie sie vielleicht dunkel färben, wie der Friseur geraten hat? Egal.

Sie wendet sich ab, stellt sich unter die Dusche, lässt lange das heiße Wasser über sich rieseln. Zieht dann ihren Morgenmantel an und geht in die Küche, macht sich einen starken Kaffee, trinkt ihn schwarz und ohne Zucker.

Jetzt endlich lassen die Kopfschmerzen nach, sie kann klarer denken.

Sie wird sich anziehen und ins ›Café Einstein‹ gehen, das ist ganz in der Nähe, viel laufen will sie nicht. Aber erst noch eine Zigarette rauchen. Im Café wird sie einen Espresso trinken und auch ein Croissant essen. Anschließend wird sie einen Spaziergang machen und darüber nachdenken, was sie tun muss, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Oder ob es sich nicht mehr lohnt.


Auszug aus Kapitel 34: Mittwoch, 22. August 2018, Claudia

Sie summt erst leise die Melodie mit, die aus dem Radio ertönt, singt dann den Text. Sie kennt ihn in- und auswendig. ›And you want to travel with her, … ‹. Nach diesem Song haben sie ihre Tochter genannt. In den Wochen vor ihrer Geburt hörten sie ihn an jedem Abend, ›Suzanne‹, von Leonard Cohen. Und am Tag, als Susan endlich geboren war und Johan allein zu Hause war, hörte er ihn ebenfalls. In Endlosschleife. Und betrank sich dabei. Vor Glück. War am Ende trunken vor Glück und trunken vom Wein.

Jetzt, hier im Auto, auf dem Weg zu Berthold, schlägt ihre Freude in Trauer um. Die Trauer um den Verlust alles Gewesenen wischt mit einem Song die Vorfreude auf Berthold zur Seite.

Vielleicht sollte sie lieber umkehren, sich den Weg nach Nürnberg sparen, die Hitzefahrt. Sich nicht über die Schwitzflecken auf ihrem neu gekauften Kleid ärgern. Zurückfahren und sich weiter um Susans Garten kümmern, den Blumen jeden Tag neues Wasser geben. Und Berthold aus ihrem Kopf streichen, wieder einmal.

Nein!

Ihr Fuß drückt stärker auf das Gaspedal, und noch ein wenig stärker. Der Wagen schießt vorwärts.

Nach vorn schauen. Weiterfahren. Zu Berthold.

Je näher sie Nürnberg kommt, desto aufgeregter ist sie. Dreht sie die Klimaanlage auf, fröstelt sie, drosselt sie die, fängt sie an zu schwitzen. Die richtige Temperatur scheint es für sie heute nicht zu geben.

In der Handtasche befindet sich die erste Kurzgeschichte, die sie geschrieben hat. Die Hexe von Santorini.

Sie vertraute Berthold an, dass sie gerade dabei sei, ein Buch zu schreiben, redete von ihren Kurzgeschichten und den Gedichten. Er will sie am liebsten alle lesen, aber die Gedichte hat sie zu Hause gelassen. Es sind alles Liebesgedichte, die möchte sie ihm nicht zeigen. Aber sein Urteil über ›Die Hexe‹ …, darauf wäre sie gespannt, sollte sie sich trauen, ihm den Text zu zeigen. Sicher ist sie nicht.

Als sie in die Stadt fährt, hält sie kurz am Straßenrand und schreibt eine SMS.

Ich bin gleich da und freue mich.

Sie werden sich im Gasthaus ›Heidekrug‹ treffen, dort gibt es einen schönen Biergarten, das ist bei diesen Temperaturen ideal. In seiner Wohnung will sie ihm nicht gleich gegenüberstehen. Wer weiß, wie fremd man sich nach den vielen Jahren ist? Seine Wohnung in der Waldluststraße ist davon nur ein paar Häuser weit entfernt.

Waldluststraße, was für ein schöner Name für eine Straße, denkt sie.

In einem Hotel, das von seiner Wohnung ebenso nicht weit entfernt ist, hat sie ein Zimmer gebucht. Vermutlich wird sie es nicht nutzen, aber man kann nie wissen.

Sie sieht ihn von Weitem. Gleich, als sie in den Biergarten tritt. Er trägt eine Brille, die hatte er damals nicht. Und seine Haare sind grauer geworden, ein sehr dunkles Grau. Kurz zögert sie, da hat auch er sie schon gesehen, winkt ihr zu, steht auf und kommt mit schnellen Schritten auf sie zu. Er strahlt sie an, sie strahlt zurück und lachend fallen sie sich in die Arme.

Er nimmt sie an die Hand und führt sie zu seinem Tisch.

»Das möchte ich auch. Ein kühles Bier, das gleiche, wie du es hast.« Claudia setzt sich ihm gegenüber, lehnt sich nach vorn, stützt ihren Kopf in ihre Hände.

Er zieht ihre Hände unter dem Kinn weg, nimmt sie fest in seine. So sitzen sie und schauen sich in die Augen.

»Ich kann es kaum glauben, du bist tatsächlich hier. Meine Güte, wie sehr habe ich mir das gewünscht.« Berthold lacht sie an, küsst ihre Hände.

»Ob das allerdings eine gute Idee war, weiß ich auch nicht.« Claudias Wangen sind gerötet, sie schiebt es auf die Hitze und fächelt sich mit dem Bierdeckel frische Luft zu. Wie das Hotel ist, in dem sie ein Zimmer gebucht hat, fragt sie ihn.

»Es ist das miserabelste Hotel, das du dir in Nürnberg aussuchen konntest. Die Matratzen sind durchgelegen, das Frühstück, sofern es überhaupt eines gibt, besteht aus trockenem Brot und Butter. Der Kaffee ist bitter wie Galle…willst du mehr hören?«

»Das reicht, das reicht. Wie konnte ich nur ausgerechnet da buchen?« Claudia lacht ihr lautes, ansteckendes Lachen. Sie hat es lange nicht mehr gelacht.

Ihr Bier kommt, sie trinkt das Glas zügig halb leer. Sie fühlt sich wohl, kann ihren Blick nicht von ihm wenden. Und wieder kommen die Schmetterlinge. Schmetterlinge in ihrem Alter. Ja, genau, es gibt sie. Sie hatte es vergessen.

Nach einem weiteren Glas Bier ist das Zimmer im Hotel storniert und sie fahren in Bertholds Wohnung. Es empfängt sie eine angenehme Kühle im Gegensatz zu draußen, und doch würde Claudia sich am liebsten unter die kalte Dusche stellen.

Aber kann sie Berthold jetzt danach fragen?

Während sie überlegt, zieht er sie in seine Arme, küsst sie, fährt mit seinen Händen langsam über ihren Rücken, nimmt ihr die Entscheidung ab.

Sie schmiegt sich an ihn, Lust breitet sich in ihrem Körper aus, ihr Atem beschleunigt sich. Plötzlich überkommt sie Verlegenheit, und sie befreit sich aus seiner Umarmung. Sie setzt sich auf sein Sofa und zusätzlich aufkommende Schuldgefühle verdrängen ihr Begehren.

Berthold bringt ihr ein Glas Wasser, setzt sich neben sie. Das trinkt sie mit gierigen Schlucken leer, stellt es mit einem Ruck auf den kleinen Tisch neben dem Sofa. Sie schließt die Augen, schüttelt den Kopf, dreht sich zu Berthold und setzt sich auf seinen Schoß. Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsst ihn. Wieder und immer wieder.

»Komm, wir suchen uns ein bequemeres Plätzchen!«, sagt er und zieht sie mit ins Schlafzimmer.

Schweißüberströmt liegen sie später nebeneinander, den Blick zur Decke gewandt, sich an den Händen haltend. Wenig später duschen sie gemeinsam in seinem großen Badezimmer.

Als Claudia, mit einer hellen Leinenhose und einer dünnen Bluse bekleidet, aus dem Schlafzimmer kommt, hat er bereits eine Flasche Weißwein geöffnet, zwei Gläser eingeschenkt und wartet auf der Terrasse auf sie.

»Mein schöner Berti«, sagt sie zu ihm, öffnet ihre Handtasche, holt ihr Manuskript heraus und setzt sich ihm gegenüber.

»Ich werde dir jetzt mein erstes Werk vorlesen. Willst du es hören?«

»Ich bin gespannt darauf.«

»Die Hexe von Santorini«, so heißt es, sagt sie und liest.


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